„Können sie das Schild da lesen”, fragte mich ein alter Mann an der Kasse 5 im Supermarkt. Korrekterweise hätte ich mit Ja antworten müssen, denn ich bin des Lesens an sich mächtig und ich befand mich – Zufälle gibt’s! – in einem Abstand vor dem Schild, auf den sich meine Augen noch recht gut adaptieren können. Um dem alten Herrn nicht unnötig viel von der noch verbleibenden Restlebenszeit abzuknapsen, las ich, seine beiden Hörgeräte berücksichtigend, ihm laut, langsam und deutlich vor: „Kasse 5”.
Wie sich herausstellte, wollte der alte Herr das aber gar nicht wissen, sondern schob gleich noch ein eine weitere Frage nach: „Erkennen sie das Schild darunter?” Was soll das jetzt? Soll das hier ein heiteres Beruferaten werden? Warum sagt der alte Knochen nicht, was er will? Das Schild, das unterhalb des „Kasse 5”-Schildes angebracht war, zeigt piktographisch, daß der Gang vor der Kasse breit genug für Rollstühle oder Kinderwagen ist. Nicht mehr und nicht weniger: ein Hinweisschild.
Allein zwei Fragen genügten in der konkreten Situation einerseits als Beleg dafür, daß Alter und Weisheit keineswegs hoch korreliert sein müssen, und um andererseits klar zu erkennen, daß eine sachliche Beantwortung der zweitgestellten Frage nur Perlen vor die Säue bedeuten würde. Also fragte ich sie, den selbstverliebten Fragesteller und seine (mutmaßlich) Ehefrau: „Und wo ist Ihr Kinderwagen?”
Glücklicherweise läßt sich ein Gerontenklugscheißer von solch einem Mückenstich nicht aus der Fassung bringen. Aber die Triebwerke liefen an: „Das hier ist die Behindertenkasse!” Ganz kurz schoß mir die Frage durch den Kopf, wie man wohl geistige Behinderung einleuchtend als Piktogramm darstellen könne. Laut stellte ich aber eine andere Frage: „Hmm, ja, ich verstehe, aber wo ist Ihr Rollstuhl?”
Ich hatte gar nicht erwartet, welche therapeutische Wirkung ein kleiner Scheinsieg bewirken kann: die alterstrüben Augen blitzten triumphierend, der Brustkorb schwoll zum Doppelten seiner sonst nur Atemnot verursachenden Größe und die Stimme wurde voll und würdevoll tönend. „Meine Frau hat doch wohl einen Rollator!”, wies er mich mit Feldherrengeste zurecht, „wir dürfen die Kasse benutzen, sie nicht!”
Ich lächelte mein zuckersüßestes Lächeln und schenkte dem mobilen Kalktransporter, der sich eine (wie er es nannte) Behinderung als Auszeichnung an Revers heftete, das wärmste Leuchten aus meinen saphirblauen Äuglein und säuselte die Frage: „Und was gibt Ihnen das Recht, andere Menschen zu diskriminieren?”
Wo die Liebe überall hinfallen kann!?
… und das an der Kasse… (;-)
Einen liebreizenden Sonntag noch, doch da sind ja alsbald auch diese Kassen geschlossen,
Raffa.
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Nun keine Bange, der Alte hat ein recht liebreizendes Gesicht. Man hätte ihn liebgewinnen können, wenn er inwendig nicht so häßlich gewesen wäre. Und es kommt doch auf die inneren Werte an, gelle.
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Aha, so hat er wohl in der Pharisäer-Waschstraße nur das Spar-Programm gewählt –
die Innenraum-Pflege ist wie so oft bei den monetär leidenden Senioren vernachlässigt worden.
Konntest du einen Blick auf den Rollator erhaschen –
so nach dem Motto, du bist, was du schiebst???
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Nein, nein, das waren keine Schieber. Allerdings war ich ein wenig abgelenkt, denn zum Rollator gehörte so ein niedlicher kleiner Drahtkorb, der mit prachtvollen Blumen bestückt war – eine Art Blumenkorb also –, die gerade eben zum Kassenförderband rolliert wurden… 😉
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mobiler Kalktransporter… pöhse…
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Böse?! Nein, nur zynisch, d.h. realistisch (siehe hier).
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dieses p-höse: https://www.youtube.com/watch?v=fPaDlNPbDSM
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… den Film hatte ich irgendwie verdrängt, aber ja, das ist wirklich phöse. 😀
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„Ganz kurz schoß mir die Frage durch den Kopf, wie man wohl geistige Behinderung einleuchtend als Piktogramm darstellen könne.“ Ach, keine Sorge – das vergessen sogar ganze Heerscharen an Inklusionsbeauftragten, die vielbeschäftigten runden Tischen zur barrierefreien Gesellschaft und darauf spezialisierte Politisierende.
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Ist dieses Schwert nicht zweischneidig? Auf der einen Seite werden tatsächlich – da stimme ich Dir durchaus zu – dringend erforderliche Hinweise oder Aufklärungsarbeit einfach zu publizieren „vergessen”. Auf der anderen Seite scheinen elementare Grundausstattungen sozialer Kompetenz noch nicht oder entschieden zu schwach oder nicht mehr vorhanden zu sein…
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Puh? Bei dem Mann an der Kasse oder bei den ggf. weitaus aggressiver auftretenden jüngeren Damen und Herren mag das mit der Grundausstattung zutreffen. Ich hatte mal jemanden, der wissen wollte, was ich denn in der Behindertentoilette zu suchen gehabt hätte?! Ich bat die Person dann um einen Ausweis, der zeigen möge, dass sie vom Landratsamt bevollmächtigt sei … problem solved. Der Blick war übrigens schön, als die Person das Schild an den übrigen Toiletten lesen musste „Wegen Renovierung nicht benutzbar. Benutzen Sie bitte das Behinderten-WC!“ Die Realität holt viele ein Und ansonsten hilft auch hier Aufklärung über die Wirklichkeit.
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Ich stimme zu: Aufklärung ist immer gut. Doch oftmals ist die erste Hürde bei der Aufklärung, die Aufklärung darüber, daß Ignoranz der Aufklärung gar sehr im Wege steht… 😉
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Ich nehme an, dass du mit Pharisäer dich selbst meinst. Denn dann passt die Überschrift sehr gut.
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Nein, diese Annahme ist falsch. Aber das ist kein Grund, sich zu grämen, denn die Projektion eigener Vorstellungen auf Fremdes trifft nur in den allerseltensten Fällen des Pudels Kern.
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schöner text
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Danke. Ich wollte, er wäre nicht nötig gewesen… ☺
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