unwirklich

Derzeit habe ich offenbar kein glückliches Händchen bei der Auswahl meines buch­förmigen Lese­stoffes. Oder nein, ich formulier’s mal lieber positiv: Derzeit habe ich eine fast schon unheim­liche Treff­sicher­heit in der Auswahl von Büchern weit jenseits der ersten, zweiten oder dritten Wahl. Auch meine jüngste Neuan­schaffung paßt genau in dieses Schema. Verleiten ließ ich mich vom Slogan des Buches: Wirklich wissen­schaft­liche Antworten auf absurde hypo­thetische Fragen. Wobei ich doch ab hier doch schon hätte gewarnt sein müssen, denn wie sollte man sich wohl unwirklich wissen­schaft­lich vorstellen? Nun ja, nach dem Lesen der Schwarte namens „what if?” (ISBN 978-3-328-10690-6) habe ich eine durchaus klarere Vorstellung von unwirk­licher Wissen­schaft.
Da wäre beispiels­weise die Frage: »Wenn ein Asteroid ganz klein, aber enorm masse­reich wäre, könnte man dann wie der Kleine Prinz darauf leben?« (Quelle: a. a. O. Seite 126ff). Statt einer Antwort im Sinne „ja, weil …” oder „nein, weil …” oder auch „weiß man nicht, weil …” gibt es 8 mehr oder weniger nichts­sagende Bildchen und insgesamt knapp 5 Seiten Text. Wenn dieser nun wenigstens stich­haltig wäre, wäre ja alles in Ordnung, aber er strotzt nur so von Fehlern.
Als Rahmen­bedin­gungen gibt es nur zwei Angaben. Zum einen soll der Asteroid – warum auch immer – einen Radius von 1,75 m haben, zum anderen soll – Zitat – „an seiner Ober­fläche eine Gravi­tation wie auf der Erde [herr­schen]”. Wo auf der Erde, auf welchem Breiten­grad, auf welcher Berges­höhe? Nicht unwirk­lich wissen­schaft­lich wäre hingegen eine Aussage der Art: „Die Fall­beschleu­nigung auf der Asteroiden­ober­fläche soll 9,81 m/s² betragen, was nähe­rungs­weise den Verhält­nissen auf der Erd­ober­fläche entspricht”. Ange­nommen, der Autor hätte es so gemeint, käme er auf eine Masse des Asteroiden von 450 Mio. t. Im Buch genannt sind aber 500 Mio. t, was einer Fall­beschleu­nigung auf der Erde von 10,9 m/s² entsprechen würde, die dort aller­dings außer­ordentlich schwer anzu­treffen sein dürfte.

Die Formelei, die dem ganzen zugrunde liegt, ist vergleichs­weise über­schaubar (Masse­berech­nung in Zeile 3):

Als Flucht­geschwin­dig­keit (→ 5. Zeile in Tab.) ist im Buch ein Wert von 5 m/s angegeben, was einer Fall­beschleu­nigung auf der Erde von 7,1 m/s² entsprechen würde. Dieser Wert weicht von dem, der mit der Masse korres­pondieren würde, nämlich 10,9 m/s², erheblich ab. Es fühlt sich so an, als wären die im Buch verwendeten Werte per Zufalls­generator ausgewählt. Schluß­folge­rungen aus derartig „windigen” Werten dürften nicht gerade in die Kategorie „wirk­lich wissen­schaft­lich” fallen, die der Buch­deckel vorgaukelt.

Alternativ lassen sich Werte finden, die eher durch den erleuch­tenden Schimmer der Wissen­schaft­lich­keit glänzen. Dazu ist es aber notwendig, nicht die Ober­fläche des Asteroiden als Bezugs­größe zu wählen, sondern den Schwer­punkt des Kleinen Prinzen. Dessen Körper­höhe ist im betref­fenden Artikel nicht benannt. Allerdings kann sie aus der Abbildung deduziert werden, die auf dem Scheitel des Kleinen Prinzen im Stand ein Viertel der Fall­beschleu­nigung gegen­über den Fußsohlen skizziert. Mit Hilfe der 4. Zeile in der obigen Tabelle läßt sich ermitteln, daß der Kleine Prinz eine Körper­höhe von 1,75 m hat – so klein ist er also gar nicht –, was zufällig mit dem Astero­iden­radius überein­stimmt. Im Stehen befindet sich der Schwer­punkt des Kleinen Prinzen (ohne sich in anato­mischen Besonder­heiten zu verlieren) 0,875 m über der Ober­fläche des Asteroiden.
Soll der Kleine Prinz mit seiner Körper­mitte im Stehen einer Fall­beschleu­nigung ausge­setzt sein, die mit der Erd­ober­fläche vergleich­bar ist, müßte der Asteroid eine Masse von 1013 Mio. t besitzen. Auf Höhe seiner Füße wirkt dann eine Fall­beschleu­nigung von 22,1 m/s² auf den Kleinen Prinzen und in seiner Körper­höhe ein Viertel davon, also nur 5,5 m/s². Um sich von der An­ziehungs­kraft des Asteroiden dauerhaft lösen zu können, benötigt der Kleine Prinz eine Flucht­geschwin­digkeit von 4,8 m/s (inetwa dieser Wert ist tat­säch­lich auch im Buch zu finden).
Durch Laufen auf der Ober­fläche ist diese Geschwin­digkeit nicht zu erreichen, auch wenn es sich um „nur” 17,2 km/h handeln würde. Das liegt daran, daß die soge­nannte 1. kosmische Geschwin­digkeit in 0,875 m über der Astero­iden­ober­fläche einen Wert von 3,4 m/s hat. Mit dieser Geschwin­digkeit befindet sich der Schwer­punkt des Kleinen Prinzen auf einer kreis­förmigen Umlauf­bahn um den Asteroiden. Die Füße erreichen zwar noch den Boden, bringen aber keine Gewichts­kraft mehr auf und können sich somit nicht mehr vom Boden abstoßen, um den Anlauf fort­zusetzen (ledig­lich der Energie­verlust durch den Luft­wider­stand kann noch ausge­glichen werden, schneller geht’s nicht).
Beim Verwenden einer Anlauf­rampe ist zu berück­sichtigen, daß die Kraft, die zum Beschleu­nigen heran­gezogen werden kann, umso kleiner ist, je steiler die Rampe aufragt. Es bräuchte eine Rampe, die mit jedem Schritt immer steiler wird, damit die Radial­beschleu­nigung den Füßen genügend Haft­reibung verleiht, um weiter beschleu­nigen zu können. Sie darf aber auch nicht zu lang sein und damit in zu große Höhen aufragen, da die Luft dort „oben” sehr schnell sehr dünn wird (die Gravi­tation nimmt mit der Höhe rasant ab und damit auch der Luft­druck, also der Schwere­druck der darüber befind­lichen Luft­säule).
Zudem „verdampfen” im wahrsten Sinne des Wortes die Moleküle der Luft vom Asteroiden, da sie im Mittel deutlich schneller sind als die Flucht­geschwin­dig­keit des Asteroiden; dieser kann sie nicht halten (obwohl er eine sagen­hafte Dichte von 45,14 t/cm³ aufweist). Um über­haupt dauer­haft eine atem­bare Atmo­sphäre um den Asteroiden zu halten, braucht es eine Schutz­hülle, die mit Druck­luft befüllt ist.
Selbst wenn der Kleine Prinz die Rampe mit Bravour über­windet, knallt er irgend­wann mit der Flucht­geschwin­digkeit gegen diese Schutz­hülle, was die Flucht möglicher­weise stoppen könnte…

8 Kommentare zu „unwirklich

  1. ich verstehe zwar nicht mal die Grundsätze dieser Gesetzmäßigkeiten mit der Gravitation und so… aber den Beweis für Deine Enttäuschung hast Du mir nachvollziehbar vermittelt.
    Danke dafür, dass Du das Buch für uns alle gelesen hast und wir davor gewarnt sind… 😉

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    1. Auwei, da muß ich mir wohl schnell mal ’ne dritte Hand wachsen lassen (und sicherheitshalber eine mit fünf Daumen).😁
      ————————————————————
      Deinen Eingangssatz sehe ich ähnlich; ich vermute im übrigen, daß die „Schwarte” einige gute Ideen aus dem 3×w noch einmal aufwärmt, um mit möglichst geringem Aufwand ein paar Sondereinkünfte zu generieren.😏

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  2. Ach du meine Güte, wäre ich der Autor des Buches, hättest du rückwirkend Leseverbot für meine Bücher!!! Ganz nebenbei stelle ich fest, dass du das Zeug hättest, derartige Literatur etwas wissenschaftlicher und mit dem nötigen Humor zu kreieren … 😉

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