So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen.
Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit […], sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. […] Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Und nun, knapp einhundert Jahre später, sei ganz schlicht die naive Frage erlaubt, ob die aktuelle Generalisierung von Rassismusvorwürfen, von geschlechterspezifischem Aktionismus, von Muttersprachmord oder die rückwirkende Geschichtsbereinigung eher zum Stichwort Genauigkeit oder nicht vielleicht doch zur Pedanterie zu zählen ist?
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Geist
So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. […] Was kann, schmückt sich mit Geist, verbrämt sich. Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wollen im Geiste unserer Bewegung handeln […].
Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und läßt nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinabsinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zum Aufwand.« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Beim Lesen dieser Passage wabert, auch wenn ich mich mit Titanenkraft dagegen wehre, eine bunt schillernde Seifenblase vor meinem geistigen (sic!) Auge durch das Assoziationszentrum, auf der die Frage lesbar ist: Und wie ist das mit Blog-Portalen?
Jugend
So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »… der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Inneren heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich gerade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren […], und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter streut, die jungen Seelen darauf zu. […] Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?!« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Wer diesen so hinreißend scharfsinnig beobachteten Lebensabschnitt bereits hinter sich hat, dürfte eher Zustimmung als Ablehnung empfinden. Hingegen werden wohl eher entweder Unverständnis oder aufbegehrende Ablehnung dominieren, wo er gerade erst erlebt oder noch auf ihn zugesteuert wird. Doch wann und warum wird aus der feurigen Glut der Jugend die kalte Asche des Alltagstrotts, während uns das „Förderband” der Marke Entropie auf der Zeitschiene Jahr um Jahr weiterschiebt?
visionär
So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »… wenn wir damals [in der Jugendzeit] Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten! – So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen …« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Auch rund neunzig Jahre später scheint das damals Gesagte längst nicht an Gültigkeit verloren zu haben. Ganz im Gegenteil, es scheint sogar für die Mehrheit der Blogger (♀♂) – und beileibe nicht nur auf die Jugend beschränkt – eine der dominierenden Profilfacetten genauestens zu beschreiben. Das nenne ich Weitsicht… 🤭
gehemmt
So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »Wenn [die Menschen] etwas Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie ein Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen. […] Es bedeutet also kein gar kleines Glück, wenn man darauf kommt, […] daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Rund neunzig Jahre später ist das alles freilich ganz anders: Der Zauberlehrling hat seit langem schon seine Lektionen gelernt.
Qualitätssprung
So um das Jahr 1930 herum schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften folgende Sätze: »Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz stehen zu ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut, also daß nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält« (Quelle: Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1980).
Rund neunzig Jahre später ist das alles freilich ganz anders, wie es allein schon ein kurzer Blick in die Medien hinlänglich illustriert. Da frage ich mich allerdings, wer wann welchen Schalter umgelegt hat, um die anthropologisch neue Menschengüte einzuschalten.